Das Mittelmeer der Zukunft

Europa im Autopilot oder eine echte Gestaltungsmacht?
Von Luca Miehe, M.A.

Die ökonomischen, politischen und sozialen Realitäten entlang des südlichen Mittelmeers sind divers. Im Maghreb erlebt Algerien eine anhaltende Protestwelle für eine demokratische Öffnung. Diese hat Tunesien bereits weitgehend vollzogen, kämpft jedoch mit anhaltenden sozioökonomischen Spannungen und großen regionalen Ungleichheiten. Marokkos autoritärer Entwicklungskurs verspricht Fortschritte in wirtschaftlichen Zukunftsbranchen, jedoch bleiben politische Spannungen ungelöst. Ein dritter Bürgerkrieg seit 2014 macht Libyen abermals zum Konfliktfeld externer Akteure. Eine Verstetigung des politischen Einflusses des Militärs in Ägypten und erneute Konflikte entlang von Konfessionslinien im Libanon stellen den Kooperationsansatz von Deutschland und der EU in Frage. Nicht zuletzt lähmt der Gordische Knoten des Israelisch-Palästinensischen Konflikts die regionale Entwicklung im Maschrek weiter.

Welche Abzweigung wird Europas Mittelmeerpolitik in Zukunft nehmen? Zwei Möglichkeiten sind denkbar: ein Europa des automatisierten Reagierens auf der einen Seite, geprägt von einer Sicherheitslogik ohne Transformationsansprüche, getrieben von einer Stabilitätsvision, die niemals recht greifbar wird. Auf der anderen ein proaktives Europa, bereit zum Gestalten und dafür, seine internen Konflikte offenzulegen und so Handlungsfähigkeit zu beweisen.

Option 1: Europa im Autopilot

Das Primat der Stabilität dominiert weiterhin die europäische Mittelmeerpolitik. (Vermeintliche) Stabilität wie beispielsweise die unter Präsident Sisi in Ägypten bleibt vorrangig vor echtem Engagement für Menschen- und Bürgerrechtsstandards. Richtig ist, Demokratie und Stabilität stehen kurzfristig in einem Spannungsverhältnis. Demokratisierung heißt auch ein Stück weit, Planungssicherheit aufzugeben. Doch richtig ist ebenso, dass anhaltender Autoritarismus Perspektivlosigkeit schafft, Frustration erhöht und auf lange Sicht keine Grundlage robuster Entwicklung sein kann. Dies hat nicht zuletzt der europäische Kooperationsansatz mit autoritären Regimen vor dem so genannten Arabischen Frühling gezeigt. Stabilität als Euphemismus für mangelnde Veränderung wurde so zum Mantra der Zukunft Europas im Mittelmeer.

Der fortwährende Fokus auf die Eindämmung der Migration und der Versuch, Migrationsrouten in Nordafrika zu schließen, offenbart nur einen der vielen Zielkonflikte europäischen Engagements in seiner südlichen Nachbarschaft. Eine Einschränkung der Mobilität in Nordafrika beispielsweise steht einem Ausbau des innerafrikanischen Handels diametral entgegen. Ökonomische Entwicklung im Rahmen eines „Kampfes gegen Fluchtursachen“ verkennt die komplexen sozio-ökonomischen Realitäten hinter einzelnen Migrationsvorhaben; zusätzlich ist ökonomische Entwicklung bis zu einem gewissen Grad erst die Grundlage für kostenintensive Routen Richtung Europa. Gefangen in einer Sicherheitslogik verstärken anhaltende humanitäre Katastrophen auf dem Mittelmeer die europäische Lähmung und setzen einen nach innen gerichteten Trend fort. Menschenrechtsverstöße von Kooperationspartnern werden goutiert, Migrationsbewegungen bekämpft und eine Politik der begrenzten Möglichkeiten zur Normalität erklärt. Ein Modus Operandi, der nicht nur schlecht für das Investitionsklima in (Nord-)Afrika ist, sondern auch eine inhaltliche Entleerung einer wertebasierten Außenpolitik mit sich bringt.

Option 2: Europa im Gestaltungsmodus

Ob und in welcher Form Deutschland und die EU den Autopilot in ihrer südlichen Nachbarschaft verlassen können, ist offen. Einige Voraussetzungen und Herausforderungen hierfür lassen sich  jedoch beispielhaft skizzieren.

Innere Konfliktlinien ansprechen. Stehen sich Konfliktlösungsansätze diametral entgegen, muss in der Außenpolitik (wie auch im Innern) Mut zum Widerspruch gelebt werden. Hierzu zählen nicht zuletzt das Engagement Frankreichs zugunsten des libyschen Kriegsherrn Khalifa Haftar im offenen Widerspruch zu seinen europäischen Partnern oder die französischen Waffenlieferungen nach Ägypten. Verstöße gegen europäisches Interesse dürfen gerade von Freunden nicht unter den Teppich gekehrt werden. Herrscht Uneinigkeit innerhalb der EU, wäre eine engere Kooperation von gleichgesinnten Staaten – eine variable Geometrie – ratsam.

Den Mittelmeerraum öffnen. Dies kann nur zuträglich für einen freien und fairen Austausch von Waren und Dienstleistungen nicht nur zwischen Europa und seiner Nachbarschaft, sondern auch innerhalb der Nachbarschaft selbst sein. Hierzu zählt, Personenfreizügigkeit neu zu denken. Italien machte es früh vor. Bereits 2001 startete eine eng vernetzte Kooperation mit dem ägyptischen Ministerium für Emigration und Arbeitskraft, bei der die Zirkulation von benötigten Arbeitskräften effektiv und anlassbezogen geregelt wird.

Kein „Schema F“. Europas Ressourcen für einen Politikansatz am Mittelmeer sind begrenzt. Gleichwohl sind Differenzierung und Kontextualisierung von Entwicklungen und Ereignissen in der Nachbarschaft notwendiger als vorher. So sollten aufgrund historischer Befindlichkeiten friedliche Proteste gegen die Regime in Ägypten und Algerien nicht dieselben Reaktionen auslösen. Den Autopilot zu verlassen, bedeutet, für zwei augenscheinlich ähnliche Herausforderungen kontextsensible Antworten zu finden.

Kooperation für Transformation. Eine Rückkehr zum Paradigma der Transformation im Interesse nachhaltiger Stabilität hielte für beide Seiten neue Chancen und Risiken bereit. Kann sich Europa als echter Partner auch der jungen Gesellschaften in seiner südlichen Nachbarschaft beweisen, werden die enormen Potenziale einer Kooperation auf Augenhöhe nutzbar.

Es bleibt offen, ob Europa fähig und vor allem willens ist, diese Entscheidung überhaupt zu fällen.

Roll, Stephan & Luca Miehe, Egypt Engulfed by Militarism, in: IEMed Mediterranean Yearbook, Barcelona 2019.

Roman, Howaida, Italian-EgyptianModel In Managing the Emigration from Egypt to Italy .Dimensions and Prospects, in: CARIM Analytic and Synthetic Notes 18 (2008).

Luca Miehe (M.A.) ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Ägypten und Algerien.