Roms mare nostrum

Ein Bild von einem Meer
Von Prof. Dr. Sabine Panzram

Römischer Einfluss

Auf dem Höhepunkt seiner Macht – um 117 n. Chr. – erstreckte sich das Imperium Romanum vom Atlantik bis zum Hindukusch und von den schottischen Highlands bis zur Sahara. Das mare nostrum verband die einzelnen Regionen: In nur vier Tagen gelangte man von Roms Hafenstadt Ostia in die hispanische Provinzhauptstadt Tarraco (Tarragona), in zwölf Tagen war man von Puteoli (Pozzuoli) aus in Alexandria in Ägypten, in sieben Tagen brachten „riesige Frachter“ einen unerschöpflichen Reichtum an Getreide, Wein, Öl von ausgezeichneter Qualität, Vieh und Jagdwild, Austern, Meeresaalen und Thunfischen von Gades (Cádiz) in die Häfen der Hauptstadt des Imperiums. Rom hatte es in beispielhafter Manier verstanden, Urbanisierung und Romanisierung zu verbinden. Es hatte die städtische Selbstverwaltung zur entscheidenden Konstituente seines Herrschaftssystems gemacht und die Ausbreitung seiner städtischen Kultur – des „Roman Way of Life“ – schuf eine Einheitlichkeit, die kein herrschaftlicher Zwang, kein durch konzeptionelle Zielvorgaben gesteuertes politisches Handeln hätte bewirken können. Sie manifestierte sich im Bauprogramm wie im Festkalender: etwa 2.000 Städte im Reichsgebiet beeindruckten durch die Uniformität ihrer Stadtbilder (Abb. 1) und eine Gleichförmigkeit der äußeren Lebensform. Im Imperium Romanum schien politisch verwirklicht, was die Natur vorgegeben hatte – die Einheit des Mittelmeerraums. Sie hatte der alten Welt die glücklichen Zeiten ermöglichte, die der Historiker Edward Gibbon gepriesen und die Theodor Mommsen für unübertroffen gehalten hatte.

Der Mittelmeerraum: eine Einheit?

Der oft und suggestiv beschriebene Eindruck einer relativen Einheitlichkeit des Mittelmeerraums geht auf die Ähnlichkeit der naturräumlichen, klimageographischen und agrarwirtschaftlichen Strukturen zurück, die eine Kleinräumigkeit der Siedlungsareale wie eine vergleichbare Stadtkultur beförderten – im romanischen Westen wie an der Levante, an den Küsten der Ägäis und der islamischen Länder Nordafrikas. Insbesondere Fernand Braudel hat dem Meer, das diese Regionen zwischen Gibraltar und dem Kaukasus verbindet, einen entscheidenden Anteil an der charakteristischen Physiognomie dieser Gebiete zugeschrieben.

Neue Ansätze

Erst in den letzten Jahren sind verstärkt Stimmen laut geworden, die die regionalen Differenzen und auseinanderstrebenden Interessen betonen und für das Maß an Einheitlichkeit eher die Verflechtung kultureller und wirtschaftlicher Aktivitäten verantwortlich machen denn originäre Homogenität. Tatsächlich charakterisiert der Begriff mediterraneum, den wir heute als Mittelmeer – ursprünglich als „mittelländisches Meer“ – übersetzen, das Meer nicht als Mitte, sondern aus kontinentaler Sicht als Binnenland, „inmitten des Landes“ liegend. Er widerspricht mithin der Vorstellung, dass das Meer die Länder der Oikumene verbinde, wie sie etwa in dem berühmten Bild aus Platons „Phaidon“ zum Ausdruck kommt, dass die Griechen um das Mittelmeer wie die Frösche um den Teich säßen. Auch der Ausdruck mare nostrum verweist weniger auf eine vertraute Verbundenheit mit dem Mittelmeer, als er vielmehr unbeholfen den Gegensatz zum äußeren Ozean terminologisch zu fassen sucht. Rom begriff sich zu keinem Zeitpunkt als natürlich begrenztes mediterranes Küstenimperium; wie schon den hellenistischen Monarchien zuvor ging es ihm auch um Hinterländer und nicht-mediterrane Regionen. Seine Politik, die auf die Kontrolle von Ressourcen, die Sicherung von Seewegen, die Macht über Regionen zielte, lässt sich nicht auf räumliche Leitlinien beziehen. Aber sie gründete auf einer Erfahrung, die ihr Verhältnis zum Mittelmeer prägte: den Konnex zwischen der Seeherrschaft einer führenden Macht, der von ihr erzwungenen und garantierten Verkehrssicherheit und dem dadurch ermöglichten wirtschaftlichen Aufschwung.

Antike Verbundenheit

Ein Bereich, in dem sich dieser Zusammenhang besonders gut in den Blick nehmen lässt, ist die Straße von Gibraltar (Abb. 2). Während sie heute zwei Kontinente, zwei Religionen und Lebensformen trennt, war sie zur Zeit Philipps II. zufolge der „mediterrane Ärmelkanal“, eine „Art Fluss, die eher vereint als trennt“. Fernand Braudel spricht, da die Iberische wie die nordafrikanische Halbinsel geologisch wie geomorphologisch aus allgegenwärtigen Bergen, Hochebenen, Ebenen, Küstenstreifen und einem Gefolge vorgelagerter Inseln bestünden und insofern hinsichtlich der Nutzungspotenziale ihres physischen Ambientes vergleichbar seien, von einem „Bi-Kontinent“. Damit griff er gewissermaßen die antike Sichtweise wieder auf: Zwar war die Straße von Gibraltar in ihrem „Imaginaire“ untrennbar mit den Säulen des Herkules verbunden, die als das Ende der bewohnten Welt – finis terrae – galten, zwischen denen das Wasser „brodelte“ und auf das in den Meeresitinerarien entsprechend verwiesen wurde, aber sie verband die beiden Ufer. Die Stadtbilder und die Funktionen der Städte diesseits und jenseits der Meerenge unterschieden sich nicht grundsätzlich, sondern höchstens quantitativ: Die Provinz Africa Proconsularis– im heutigen Tunesien, Algerien und Libyen – übertraf Baetica– etwa deckungsgleich mit Andalusien – nämlich noch an Urbanität. Der Handel blühte, die Mobilität der Anrainer stand außer Zweifel und in der Spätantike unterstanden die nordafrikanische Provinz Mauretania Tingitana und Baetica sogar einer einzigen Provinzialverwaltung. Schließlich unterlagen die vereinheitlichenden Faktoren jedoch den politischen Gegebenheiten und die unterschiedlichen Modernisierungsprozesse vergrößerten die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Unterschiede noch. Doch es bleibt das Mittelmeerbild Roms als Hoffnungsträger für die Zukunft – entmythisiert, aber gerade deshalb realisierbar.

 

Braudel, Fernand, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde., Frankfurt am Main 1994.

Panzram, Sabine, Realität versus Paradigma. Gades und der sog. „Círculo del Estrecho“, in: Orbis Terrarum 13 (2015), S. 155-191.

Schulz, Raimund, Die Antike und das Meer, Darmstadt 2005.

Dr. Sabine Panzram ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Hamburg. Ihre Forschungen konzentrieren sich aufdie Sozialgeschichte der Macht und die Stadtgeschichte im westlichen Mittelmeerraum (Iberische Halbinsel, Nordafrika). Aktuell arbeitet sie zum Konzept der ‚long Late Antiquity‘: Entre civitas y madīna. El mundo de las ciudades en la PenínsulaIbérica y en el norte de África (siglos IV-IX), Madrid2018 (= Collection de la Casa de Velázquez; 167).