Wenn es die EMA noch nicht gäbe, müsste man sie dringend gründen!

Bundespräsident a.D. Christian Wulff, Ehrenpräsident der EMA 

Als die EMA vor zehn Jahren aus der Taufe gehoben wurde, war unsere Welt eine völlig andere: Das erste iPhone war eben erst auf den Markt gekommen und auch die Ausmaße der Finanzkrise waren damals – wenn überhaupt – nur in Ansätzen erkennbar. Beides hat unsere Welt völlig verändert; wir erleben durch Digitalisierung und die langfristigen Auswirkungen der Finanzkrise eine Erosion des Vertrauens innerhalb unserer Gesellschaften – und gleichzeitig des Vertrauens in die internationale Kooperation.

Der „wind of change“, der unsere Gesellschaften Anfang der 1990er Jahre noch in Richtung Frieden, Freiheit und Demokratie zu tragen schien, scheint sie nun in Richtung Abschottung, Ausgrenzung und Isolation zu tragen. Die Menschen haben Angst. Angst und Misstrauen prägen die Stimmung in vielen Gesellschaften und auch das Klima zwischen den Ländern und ganzen Regionen.

Andererseits sind wir nicht nur mit unseren Nachbarn in Europa, sondern auch mit den Ländern auf der ganzen Welt heute in einer Weise verbunden, die uns deutlich vor Augen führt, dass Abschottung nicht nur schädlich, sondern schlicht unmöglich ist. Das gilt umso mehr für ein Land wie Deutschland, das vom freien Handel innerhalb und außerhalb Europas profitiert wie kaum ein anderes Land.

Zehn Jahre haben viel verändert, weltweit, in Europa und auch in Deutschland. Vieles, was wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können, ist heute Realität. Großbritannien verlässt die EU. Für den US-Präsidenten ist internationale Politik ein Nullsummenspiel und Institutionen sind Verhandlungssache. Im Nahen und Mittleren Osten war Frieden auch vor zehn Jahren nicht mehr als die (vorübergehende) Abwesenheit von Krieg. Heute wäre das an vielen Stellen der Region bereits ein Erfolg. Der Unfrieden ist endemisch und Krieg in vielen Teilen ein Dauerzustand geworden.

Wir haben das Scheitern der Demokratiebewegungen in einigen Ländern der Region erlebt. Wir spüren die Desillusionierung, die sich dort breitmacht, wo die Autokraten am Ende gewonnen haben. Und wir sehen, dass selbst dort, wo die Menschen erfolgreich waren, wie etwa in Tunesien, dieser Erfolg an einem seidenen Faden hängt, wenn wirtschaftliches Vorankommen und konkrete Verbesserungen im Leben der Menschen ausbleiben.

Diese Entwicklungen erfüllen mich mit Sorge. Umso mehr gewinnt die Arbeit der EMA an Bedeutung, denn sie schafft eine Verbindung zwischen den Menschen und Ländern nördlich und südlich des Mittelmeers. Auf meinen Reisen in die Länder der Region bin ich immer wieder auf Menschen getroffen, denen es wichtig ist, Einigkeit zu stiften, wo Zwietracht herrscht.

Gerade durch nachhaltige wirtschaftliche Kooperation können wir diese Schlüsselregion stärken und uns für ein Miteinander und gegen Abschottung entscheiden. Dabei steht die „Schaffung von Perspektiven zum gemeinsamen Vorteil“ im Vordergrund.

Wenn wir die Welt von morgen für alle besser gestalten wollen, dann müssen wir berücksichtigen, dass die Bevölkerung der arabischen Länder von heute rund 400 Millionen Menschen bis 2050 voraussichtlich um das Anderthalbfache anwachsen wird. Rund 200 Millionen Menschen mehr bis 2050 benötigen dann auch rund 200 Millionen mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Wasser und Infrastruktur für 200 Millionen mehr Menschen. Sie benötigen 200 Millionen Zukunftsperspektiven.

Das macht auch deutlich, dass die Region unglaublich viele Chancen bietet, und zu Fatalismus kein Anlass besteht. Es ist ein wesentlicher Auftrag der EMA, hier mitzutun, die Kraft ihres Netzwerks in beide Richtungen zu nutzen, um Brücken zu bauen.

Es muss darum gehen, dass das Mittelmeer wie einst ein Raum des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs wird – und nicht, wie in der Wahrnehmung der Menschen auf allen Seiten derzeit – zu einem Meer des Todes. Der Blick über das Mittelmeer findet in Europa heute fast nur unter dem Gesichtspunkt „innere Sicherheit“ statt. Wir reden nur noch über die Schlagkraft von Frontex. Dabei gibt es viel Verbindendes, auf dem wir Gemeinsames aufbauen können.

Dialog lohnt sich. Kooperation lohnt sich. Dass es dabei nicht immer geradeaus geht, zeigt das tunesische „Quartett für den nationalen Dialog“, das 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es ist auch dort harte Arbeit und ein schwieriger Prozess, gemeinsam die Geschicke eines Landes im Transformationsprozess mitzubestimmen, Konflikte auszutragen und zu lösen. Hierbei darf und muss auch konstruktiv gestritten werden. Es gilt, sozialverträglich einen Konsens aller Beteiligten zu erreichen. Wir müssen diese Schritte anerkennen. Und vergleichbare Initiativen und Projekte in den anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens verdienen unsere Unterstützung.

Das liegt in unserem eigenen Interesse. Denn wir können Stabilität – sowohl unter dem Gesichtspunkt der inneren Sicherheit als auch in wirtschaftlicher Hinsicht – auch in Europa nur dann erreichen, wenn in unseren Nachbarregionen, im Maghreb und im Nahen und Mittleren Osten, relative Stabilität herrscht.

Das zeigt schon ein Blick in den UN Arab Development Report: 2002 gab es fünf arabische Staaten mit Gewaltkonflikten, 2016 waren es elf. 2014 machte die arabische Welt gerade fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, es fanden dort aber 45 Prozent der Terroranschläge statt. 68 Prozent aller durch Kriegshandlungen Umgekommenen, 47 Prozent aller Binnenflüchtlinge und 58 Prozent aller zur Flucht ins Ausland Getriebenen der ganzen Welt kommen aus den arabischen Ländern.

Um nachhaltig Stabilität und eine Verbesserungen der wirtschaftlichen Situation für die Menschen zu erreichen, brauchen wir mehr Austausch, mehr Kooperation, im Großen wie im Kleinen, im kulturellen wie im wirtschaftlichen Bereich. Das mag in diesen Zeiten antizyklisch wirken, aber es ist sicher nicht antiquiert! Vielleicht war es niemals so wichtig wie heute, für diese Form von Austausch einzutreten, sie zu konzipieren und ins Werk zu setzen.

Die EMA macht genau das. Sie setzt sich ein für die Kooperation auf der Ebene der kleinen und mittelständischen Unternehmen, sie verbindet Unternehmen und Menschen. Sie schafft damit auf beiden Seiten Win-Win-Situationen, für Deutschland und Europa sogar in mehrfacher Hinsicht: Durch die Arbeit der EMA gewinnen Menschen in den Ländern der Region Perspektiven. Ihr persönliches Umfeld gewinnt an Stabilität.

Das hilft den Menschen, es hilft den Ländern und der Region. Es hilft aber auch uns, weil unsere Unternehmen neue Märkte erschließen, weil sie Anregungen und Ideen mit nach Europa und nach Deutschland bringen – und weil sich wachsende Stabilität in der Region natürlich auch positiv auf die Sicherheit in Deutschland und Europa auswirkt. Wenn wir das Mittelmeer wieder als einen Raum des Austauschs und des gemeinsamen Wirtschaftens sehen können, dann werden davon alle profitieren!

Darüber hinaus hilft es uns auch, uns selbst besser zu verstehen – woher wir kommen, wo auch unsere Wurzeln liegen:

Die Mittelmeer- und Nahostregion ist reich an kulturellem Erbe der Menschheit und Wiege unserer Zivilisation. Denken wir an Tanger in Marokko, Heimat von Ibn Battuta, dem arabischen Marco Polo, ein angesehener muslimischer Forschungsreisender, der Mitte des 14. Jahrhunderts über Ägypten, Mekka und die Malediven bis nach China, Sansibar und Timbuktu gelangte. Fast dreißig Jahre seines Lebens war er unterwegs – ein leuchtendes Beispiel für Völkerverständigung und internationale Zusammenarbeit, für Neugier auf Fremde und Fremdes.

Denken wir an Karthago – das heutige Tunis –, Alexandria in Ägypten oder Bagdad im Irak, mit ihren vielfältigen Handelsverbindungen, einzigartigen Bibliotheken und bahnbrechender Forschung und jeweils die größten Städte ihrer Zeit. Wenn wir uns insgesamt zurückerinnern an die Blütezeit der Arabisch-islamischen Welt vor etwa 800 Jahren, dann war diese Periode eben nicht nur geprägt von großartiger Kunst und Kultur, sondern auch von gegenseitigem Respekt und Dialog innerhalb der Arabisch-islamischen Welt und darüber hinaus. Daran fehlt es heute leider häufig völlig, und diese Sprachlosigkeit führt die Region immer in Kriege und Gewalt, die auch uns betreffen.

Das zeigt: Wir haben ein unmittelbares Interesse an einem intensiven Austausch zwischen Europa und der arabischen Welt – heute vielleicht mehr denn je. Angesichts all dessen können wir heute feststellen, dass die Gründung der EMA vor zehn Jahren ein wichtiger Schritt nach vorne war. Sie hat die Entwicklungen so sicher nicht antizipieren können, aber sie ist jedenfalls die richtige Antwort auf Fragen, die sich heute aktueller denn je stellen. Anders ausgedrückt: Wenn es die EMA noch nicht gäbe, müsste man sie dringend gründen!

Dafür, dass sie vor zehn Jahren wirklich gegründet wurde, dafür dass sie wachsen und gedeihen konnte, schulden wir vielen Menschen Dank, die daran an ganz unterschiedlichen Stellen beteiligt waren. Zuallererst gilt das natürlich für Frau Gruitrooy, die zunächst als Geschäftsführerin und nun Generalsekretärin zahlreiche wegweisende Projekte angestoßen hat und das Gesicht der Organisation die EMA nach innen wie nach außen trägt. Und auch Herrn Layadi, der als Gründer der EMA vor zehn Jahren die Initiative ergriff und aus einer Idee eine Organisation formte, die sich der Förderung der europäisch-arabischen Zusammenarbeit verschrieben hat.

Gemeinsam mit ihrem Team, mit unermüdlichem Einsatz, nie nachlassender Kreativität und einem großartigen Netzwerk haben sie den Boden dafür bereitet, dass wir heute nicht nur auf viele großartige Momente und Begegnungen zurückblicken, sondern uns auch auf viel Wunderbares freuen können! Wahrscheinlich können die wenigsten hier nachempfinden, was es heißt, eine solche Organisation zu gründen und zu etablieren, sie am Laufen zu halten, mit all der Verantwortung für Partner, Mitarbeiter und den Vorstand. Eben auch mal gegen die eigenen Zweifel anzukämpfen und dabei den inneren Kompass nicht zu verlieren.

Das haben Sie geschafft! Ich wünsche der EMA weiter viel Erfolg. Dieser liegt in unser aller Interesse. Wirklich im Interesse aller, auch wenn sich viele darüber immer noch nicht im Klaren zu sein scheinen.

Christian Wulff, Ehrenpräsident der EMA, war von 2010 bis 2012 der zehnte Präsident der Bundesrepublik Deutschland und zuvor von 2003 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen.